Decolonial Travel Guide Tanzania

Der deutsche Kolonialismus und sein Einfluss auf die Gegenwart in Tansania

Reginald Elias Kirey

Das heutige Festland-Tansania war Teil der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika, die sich bis in die heutigen LĂ€nder Ruanda und Burundi erstreckte und ein Gebiet von etwa einer Million Quadratkilometern umfasste. Deutschlands Wettlauf um koloniale Eroberungen in Ostafrika begann 1882, als der Deutsche Kolonialverein gegrĂŒndet wurde, um den Kampf um Überseekolonien anzufĂŒhren.

Die europÀische Kolonialisierung war weitgehend durch den wirtschaftlichen Bedarf an afrikanischen Rohstoffen, billigen ArbeitskrÀften, Land und MÀrkten motiviert.

Im Jahr 1884 grĂŒndete Karl Peters seine Gesellschaft fĂŒr deutsche Kolonisation, die mit mehreren afrikanischen Regierungschefs in Orten wie Uzigua, Uluguru und Usagara gefĂ€lschte VertrĂ€ge – sogenannte „kaiserliche Schutzbriefe“ – abschloss. Durch die Unterzeichnung der VertrĂ€ge wurde den lokalen Machthaber*innen vorgegaukelt, dass die imperialen MĂ€chte ihre Gemeinschaften oder Gebiete schĂŒtzen wĂŒrden. Dieses Vorgehen ermöglichte es Peters, die Kolonie zu grĂŒnden, sehr zum Missfallen der Einwohner*innen, die nie von den Deutschen kolonialisiert werden wollten.

Deutschlands Kampf um den Besitz von Territorien wurde nicht nur durch den Abschluss von VertrĂ€gen erreicht, sondern auch durch Zusammenarbeit, Zwang und den Einsatz von Kanonenbootpolitik. Diese vielfĂ€ltigen Strategien zur Kolonialisierung Ostafrikas wurden nach der offiziellen Genehmigung der Kolonialpolitik durch Reichskanzler Otto von Bismarck am 22. Februar 1885 verstĂ€rkt angewandt. In verschiedenen Landesteilen wurden sofort MilitĂ€rstĂŒtzpunkte errichtet, um eine wirksame Kontrolle zu gewĂ€hrleisten und den Einfluss des deutschen Reiches gegenĂŒber rivalisierenden imperialen MĂ€chten wie Großbritannien zu stĂ€rken.

Die Etablierung der deutschen Kontrolle stieß auf afrikanischen Widerstand!

Um sich gegen die deutsche koloniale Ausbeutung zu wehren, schlossen sich entlang der KĂŒste und im Landesinneren von Tanganyika jeweils lokale Widerstandsgruppen zusammen. Ebenso wie andere großrĂ€umige, spĂ€tere Widerstandsbewegungen, z. B. der Maji-Maji-Krieg, wurde Widerstand von der „Schutztruppe“ gewaltsam und systematisch unterdrĂŒckt. Einige der afrikanischen WiderstandskĂ€mpfer*innen wurden gefangen genommen und schließlich hingerichtet. Die Hinrichtungen gingen einher mit Ă€hnlichen Gewalttaten wie PlĂŒnderungen und dem Verschiffen menschlicher Gebeine. Bis heute werden diese Personen in Tansania als Held*innen verehrt, weil sie den Mut aufbrachten, sich der Kolonialherrschaft zu widersetzen. So wurden beispielsweise in verschiedenen Teilen des Landes DenkmĂ€ler errichtet. DarĂŒber hinaus wurden Straßen und staatliche Einrichtungen wie Schulen und UniversitĂ€ten nach ihnen benannt.

Die deutsche Kolonialherrschaft verĂ€nderte nicht nur die traditionellen AutoritĂ€ten der vorkolonialen Gesellschaften, sondern fĂŒhrte auch neue sozioökonomische und kulturelle Elemente ein, die den Einheimischen fremd waren. Die blĂŒhenden vorkolonialen Volkswirtschaften, deren Wirtschaftsbeziehungen sowie das bereits etablierte afrikanisch-asiatische Handelsnetzwerk wurden in die globalen, kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungssysteme integriert. Die koloniale Ausbeutung Ă€ußerte sich in Form von Zwangsanbau von Cash Crops, die fĂŒr den Export benötigt wurden, Zwangslieferung billiger ArbeitskrĂ€fte fĂŒr den Bergbau, Siedlerfarmen und Plantagen, Zwangsbesteuerung sowie Aneignung von Land, das zuvor unter traditionellem Landbesitz stand. DarĂŒber hinaus wurden neue kulturelle Werte wie westliche Bildung, Christentum, Kleidungs- und Essgewohnheiten in die kolonialisierten Gesellschaften Ostafrikas im Allgemeinen und Tanganyikas im Besonderen eingefĂŒhrt.

Usambara Bahn (c) ub-bildarchiv-dkg-uni-frankfurt / Wikimedia

Obwohl die deutsche Kolonialzeit in Ostafrika relativ kurz war, da ihre administrative Rolle nach dem Ersten Weltkrieg an die Brit*innen und Belgier*innen ĂŒbertragen wurde, hatte sie einen lang anhaltenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Einfluss.

So gehen die meisten der heutigen territorialen oder politischen Grenzen auf die deutsche Zeit zurĂŒck, ganz zu schweigen von der Stadt Dar es Salaam, die bis vor kurzem noch als politischer Regierungssitz diente. Auch der heutige Agrarsektor zeugt vom Erbe der deutschen Kolonialwirtschaft. Bauern und BĂ€uerinnen in verschiedenen Teilen des Landes bauen immer noch Sisal oder Kaffee an, die von deutschen Missionar*innen, Siedler*innen und Plantagenbesitzer*innen als Cash Crops fĂŒr die MĂ€rkte in Übersee eingefĂŒhrt wurden.

Die deutsche koloniale Infrastruktur ist ein weiterer Beweis dafĂŒr, wie der Kolonialismus die Gegenwart in Tansania beeinflusst hat. So weichen beispielsweise die wichtigsten regionalen Autobahnen und Eisenbahnlinien kaum von den kolonialen deutschen Verkehrsmustern ab. Das Gleiche gilt fĂŒr die Straßenmuster der aus der deutschen Kolonialzeit stammenden Stadtzentren wie Dar es Salaam. Die kolonialen Straßennamen wurden zwar bald nach der UnabhĂ€ngigkeit umbenannt, aber ihre Muster blieben unverĂ€ndert. Ebenso beeinflussen die architektonischen Hinterlassenschaften der deutschen KolonialstĂ€dte und Missionsstationen die aktuelle tansanische Architektur. So finden sich bei den jĂŒngsten Bauten von Verwaltungs- und KirchengebĂ€uden deutsche Architekturelemente wieder. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass ein neues StaatsgebĂ€ude in Dodoma, das kĂŒrzlich errichtet wurde, dem ehemaligen deutschen StaatsgebĂ€ude in Dar es Salaam sehr Ă€hnlich sieht.  Mehrere deutsche Kolonialbauten in verschiedenen Teilen des Landes wurden aufgrund ihres historischen, wirtschaftlichen, architektonischen, kulturellen und Ă€sthetischen Wertes zu nationalen DenkmĂ€lern erklĂ€rt.

Die generationenĂŒbergreifenden kollektiven Erinnerungen an die deutschen Kolonialerfahrungen in Tanganyika haben die postkoloniale Erinnerungskultur maßgeblich geprĂ€gt.

Zum Beispiel hat der deutsche Kolonialismus auch den Inhalt der GeschichtslehrplÀne in den Grund- und Sekundarschulen geprÀgt. Der Unterricht zur deutschen Kolonialgeschichte ist ein wesentlicher Inhalt der Geschichte Tanganyikas. Themen der deutschen Kolonialgeschichte sind Kolonialkriege, WiderstÀnde, Ausbeutung, Bildung, Gesundheitswesen und Evangelisierung.

Die kollektive Erinnerung an deutsche koloniale Gewalttaten hat außerdem zu verschiedenen Formen des Gedenkens und der Verehrung von Kriegsheld*innen gefĂŒhrt. Diese Situation spiegelt sich in den jĂŒngsten Entwicklungen wider, die das nationale Gedenken an den Maji-Maji-Krieg sowie den Bau von Museen und DenkmĂ€lern betreffen. Diese Ereignisse haben die Politik der RĂŒckgabe von human remains gestĂ€rkt und gipfelten im Besuch des Maji-Maji-Museums in Songea im November 2023 durch den deutschen BundesprĂ€sidenten Frank-Walter Steinmeier, der fĂŒr die in Deutsch-Ostafrika begangenen GrĂ€ueltaten um Vergebung bat. Im FrĂŒhjahr 2025 besuchte die hochrangige diplomatische Delegation des Nationalen Komitees fĂŒr Diskussionen ĂŒber AntiquitĂ€ten, Artefakte und menschliche Überreste aus Tansania Deutschland im Rahmen einer Informationsreise und traf sich mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, des Außenministeriums und verschiedener Museen.

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