Decolonial Travel Guide Tanzania

MWANZA

Mariam Gichan 1

Mwanza, die zweitgrößte Stadt Tansanias, ist bekannt für ihre atemberaubenden Felsformationen, ihre Lage am Ufer des Viktoriasees und die Sukuma-Kultur. Hinter der landschaftlichen Schönheit verbirgt sich jedoch eine Geschichte, die von der deutschen Kolonialherrschaft geprägt ist. Die Infrastruktur, Namen und historischen Stätten prägen das Stadtbild. Diese Geschichten werden oft von Außenstehenden erzählt, selten jedoch aus der Perspektive der Menschen aus Mwanza.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war Mwanza ein wichtiger Verwaltungs- und Handelsknotenpunkt für die deutsche Kolonie Ostafrika. Die Deutschen errichteten einen Bahnhof, um die Gewinnung von Rohstoffen zu erleichtern, bauten Gebäude und führten Cash Crops wie Baumwolle ein, die die lokale Wirtschaft neu gestalteten. Diese Entwicklungen kamen nicht den einheimischen Menschen zugute, sondern waren Instrumente der Kontrolle und Ausbeutung. Wie auch anderswo in Tansania gab es in Mwanza Widerstand gegen die Kolonialherrschaft. Unter anderem kämpften die Sukuma-Gemeinschaften gegen Zwangsarbeit, Besteuerung und Landenteignung. Während offizielle Aufzeichnungen oft die deutsche Ingenieurskunst und Regierungsführung verherrlichen, ist es wichtig, sich an die Menschen zu erinnern, die unter der Kolonialpolitik gelitten haben, und an diejenigen, die sich dagegen gewehrt haben.

Die koloniale Gewalt beschränkte sich nicht nur auf Zwangsarbeit und Landenteignung, sondern umfasste auch brutale Hinrichtungen afrikanischer Führer*innen, die sich der deutschen Herrschaft widersetzten. Einer dieser Anführer war Chief Chenge von Bujashi. In einer mündlichen Aussage berichtet Chief Itale, ein Nachfahre von Chenge, wie sein Vorfahr von den Deutschen hingerichtet wurde, nachdem er sich geweigert hatte, sich ihrer Autorität zu unterwerfen. Als die Deutschen auf der Suche nach einem Mordverdächtigen in Bujashi eintrafen, forderten sie Chief Chenge auf, zu ihnen zu kommen. Als souveräner Anführer lehnte er dies jedoch ab und bestand darauf, dass sie stattdessen zu ihm kommen sollten. Diese Auflehnung verärgerte die Deutschen und führte zu seiner Hinrichtung. Sein Schädel wurde für rassistische Studien ins Deutsche Reich gebracht, ein Schicksal, das viele afrikanische Widerstandsanführer*innen unter deutscher Kolonialherrschaft teilten.

Im Rückblick auf diese schmerzhafte Geschichte betont Chief Itale, wie wichtig es ist, mit Einheit und Frieden voranzuschreiten. „Haben wir Feindschaft geschaffen? Nein, wir haben ihnen bereits vergeben und wir haben (die Vergangenheit) ausgelöscht. Jetzt müssen wir in Frieden und Liebe leben“, sagt er. Seine Worte unterstreichen die Widerstandsfähigkeit der Menschen in Bujashi und ihren Wunsch, sich an die Geschichte zu erinnern, ohne sich von ihr gefangen nehmen zu lassen. Auch wenn die Ungerechtigkeiten der Kolonialzeit nicht ausgelöscht werden können, streben Sukuma-Gemeinschaften wie Bujashi eher nach Anerkennung und Versöhnung als nach anhaltender Feindseligkeit.

Hanging Tree Memorial

Hanging Tree Monument (c) Ramona Seitz

Das Hanging Tree Memorial befindet sich an einem belebten Kreisverkehr an der Kreuzung der Julius Nyerere Road, der Jomo Kenyata Road und der Makongoro Avenue. Dieser Ort erinnert an öffentliche Hinrichtungen und koloniale Gewalt.

Gunzert-Haus

Das Gunzert-Haus (in Makoroboi) wirft Fragen darüber auf, wie koloniale Architektur erhalten werden soll. Es thront auf einem Hügel, der von den Deutschen einst Calf Hill genannt wurde. Das Gunzert-Haus erinnert an die koloniale Vergangenheit Mwanzas unter deutscher Herrschaft. Es wurde 1912 für Theodor von Gunzert, den ehemaligen Bezirkskommissar der Stadt, erbaut und bietet einen Panoramablick auf den Viktoriasee.

Gunzert House (c) Delphine Kessy

Während seine Architektur den deutschen kolonialen Einfluss widerspiegelt, ist sein Vermächtnis mit der Ausbeutung und dem Widerstand der lokalen Bevölkerung verflochten. Gunzert regierte Mwanza mit eiserner Faust, setzte Zwangsarbeit und brutale Strafen durch und erhielt den Spitznamen Mkali. Die Bevölkerung von Mwanza leistete jedoch sowohl aktiv als auch passiv Widerstand, indem sie Strategien wie Arbeitsverlangsamungen und Sabotage in der Landwirtschaft anwandte. Heute ist das Gunzert-Haus ein Museum und für die Öffentlichkeit zugänglich.

Bismarck-Felsen

Bismarck Rock (c) Mariam Gichan

Der Bismarck-Felsen, eine Felsformation in einer Bucht des Viktoriasees in der Stadt Mwanza, wurde nach Otto von Bismarck benannt, der zu Beginn der offiziellen deutschen Kolonialisierung Ostafrikas deutscher Reichskanzler war. Dieses Wahrzeichen ist eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten von Mwanza. Der Name selbst ist ein Relikt der Kolonialgeschichte.

„Deutscher“ Friedhof

Der „deutsche“ Friedhof in Mwanza erinnert an die koloniale Vergangenheit der Stadt, mit Gräbern aus der Zeit Deutsch-Ostafrikas (1885–1918). Der Friedhof ist leicht zu finden, folgen Sie einfach der Straße zum berühmten Tilapia Hotel und gehen Sie noch ein Stück weiter. Heute ist es der Friedhof der anglikanischen Kirche. Unter den neuen Gräbern befinden sich noch zahlreiche deutsche Gräber aus der Kolonialzeit. Einige Grabsteine erinnern an sehr dunkle Geschichten.

Da ist zum Beispiel das Grab von Moritz Merker, einem Offizier der Kaiserlichen Schutzmacht. Aus heutiger Sicht gilt dieser Mann als Kolonialverbrecher. Historische Aufzeichnungen belegen seine direkte Beteiligung an der Verschiffung menschlicher Überreste aus Deutsch-Ostafrika ins Deutsche Reich für sogenannte wissenschaftliche Studien. Diese rassistische und hierarchische Forschung ist jedoch längst als falsch entlarvt worden. Es ist wichtig, sich kritisch mit solchen Orten wie dem Friedhof auseinanderzusetzen und die Erzählung von kolonialer Nostalgie zu historischer Verantwortung zu verschieben..

Grave of Moritz Merker at the Cemetery (c) Mariam Gichan

Viktoriasee

Lake Victoria (c) Mariam Gichan

Der Viktoriasee, bekannt unter seinen indigenen Namen wie Nyanza, Nam Lolwe und Nalubale, wurde 1858 vom britischen Entdecker John Hanning Speke umbenannt, wodurch die tief verwurzelten afrikanischen Identitäten ausgelöscht wurden. Dieser Akt der kolonialen Kartierung symbolisierte die Auferlegung fremder Narrative auf einen See, der seit langem eine zentrale Rolle für die lokalen Kulturen, Wirtschaft und spirituellen Überzeugungen spielt. Dekolonisierung bedeutet hier, diese indigenen Namen zurückzugewinnen, von den Gemeinden am Seeufer über ihre historischen Verbindungen zum Wasser zu lernen und zu verstehen, wie koloniale Eingriffe ökologische und soziale Systeme zerstört haben. Reisende werden ermutigt, sich mit lokalen Reiseführer*innen auseinanderzusetzen und das wahre Erbe des Sees jenseits kolonialer Inschriften zu würdigen.

Das Bujora Historical Museum in Bujora-Kisesa bewahrt und präsentiert die Geschichte und Traditionen der Sukuma-Gemeinden, die seit Jahrhunderten in der Region leben. Ein Besuch in Bujora ermöglicht es Reisenden, mehr über das indigene Erbe von Mwanza jenseits der kolonialen Brille zu erfahren. Die historische Stätte Kageye in Kayenze bietet ebenfalls Informationen aus der Zeit vor dem Kolonialismus. Früher war sie ein wichtiger Handelsposten. Hier können Besucher*innen auch etwas über Fragen der Sklaverei erfahren. Später ließen sich dort Missionar*innen nieder. Kageye existierte schon lange vor der Ankunft der Deutschen. Es bietet einen Einblick in die Vergangenheit der Region vor der europäischen Intervention. Mwanza ist auch ein idealer Ausgangspunkt für eine Reise zur Insel Ukerewe. Für diejenigen, die ein Abenteuer der anderen Art suchen, bietet eine Fähre von Mwanza zur Insel Ukerewe eine Reise über die Gewässer des Viktoriasees zu einem geschichtsträchtigen Ziel.

Weiterführende Informationen

  1. Ein großes Dankeschön an Ramona Seitz und Ramadhan Pocha, die mit mir Mwanza und Umgebung bereist haben. ↩︎